Der erste Eindruck zählt

Der erste Eindruck zählt

16/11/2020 11 Von Marison

„You never get a second chance to make a first impression“. Dieser schlaue Spruch hat bei uns eine völlig neue Dimension erreicht. Es ist so: Menschen mit einer Autismusspektrumstörung brauchen in der Regel eine Tagesroutine. Einen Ablauf, an dem sie sich festhalten können. Etwas, das einfach immer so ist, sich nicht verändert. Denn Veränderung bringt immer auch Verunsicherung. Es müssen nicht immer große Veränderungen sein. Bei uns reicht oft schon eine neue Bettwäsche. Herausfordernd ist immer der Saisonwechsel und die damit einhergehenden neuen Anziehsachen. Letztes Jahr war der Übergang von Sneakers zu Winterstiefeln ein Kampf. In diesem Jahr geht die Kampfansage an den Schal. Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir in diesem Winter das mit den Handschuhen schaffen.

Gutgemeinte Pläne

Jim kann mit Veränderungen ganz gut umgehen. Es kommt trotzdem vor, dass er meckert und motzt oder sich wehrt. Solange wir ihn nicht zwingen, sondern ihm Zeit lassen, regelt sich das meist von ganz allein. Je mehr wir versuchen das zu beschleunigen, umso heftiger wird die Abwehr. Aber das ist bei neurotypischen Kindern sicher auch so. Der Unterschied ist, dass wir Jim nur schwer das „Warum“ beantworten oder ihm den Grund für die Änderungen erklären können.

Nun kann nicht immer alles zu 100% so ablaufen wie jeden Tag. Die Socken müssen irgendwann mal in die Wäsche, die Tonie-Box muss irgendwann mal aufladen und kann nicht immer an ihrem Stammplatz stehen, irgendwann ist es zu kalt für kurze Hosen und irgendwann passieren auch einfach mal Dinge, die nicht geplant waren. Das ist dann der Moment, in dem wir uns einen Plan zurecht legen. Denn: nach all dem Motzen, Meckern und allmählichem Akzeptieren manifestiert sich diese Situation bei Jim als neue Routine. Als Regel. Als etwas, was anscheinend ab jetzt immer so ist. Da muss vorher gut überlegt sein, wie das Neue eingeführt wird. Zumindest theoretisch. Praktisch ist es so, dass unsere gut durchdachten Pläne selten funktionieren. Aber sie geben uns das Gefühl, wenigstens vorbereitet zu sein.

Das ist jetzt immer so

Als wir Jim vor einiger Zeit mal ausnahmsweise mit dem Auto vom Kindergarten abholten, um zu Freunden zu fahren, anstatt wie sonst nach Hause zu gehen, war das Geschrei erstmal groß. Es war der Kindersicherung in der Autotür zu verdanken, dass er sich nicht selbständig auf den Fußmarsch heimwärts machte. Auch bei unseren Freunden war er erstmal nicht zu beruhigen, da half auch die große Schüssel Chips nichts. Letztendlich hatten wir dann doch noch einen vergnügten Abend und Jim war später auch bester Laune. Bei ihm hatte sich allerdings eingebrannt: super, ab sofort werde ich immer mit dem Auto abgeholt und wir fahren zu Freunden. Die Enttäuschung war entsprechend groß am nächsten Tag, als wir uns wieder zu Fuß auf den Heimweg machten. Das dauerte einige Tage an und jetzt ist der Spaziergang nach Hause wieder die Regel.

HaubeWährend der ersten Corona-Lockdown Phase im Frühjahr kam unsere Tagesroutine ordentlich durcheinander. Kindergarten und Spielplätze waren geschlossen. Jim konnte den halben Tag im Schlafanzug rumsumpfen. Wenn wir uns dann mal angezogen haben, ging es raus an die frische Luft. Das hielt einige Wochen an. Genug Zeit also, damit „wenn wir uns anziehen, geht’s zum Rollerfahren in den Park“ für Jim zur neuen Routine wurde. Unter der Woche haben wir das wieder ganz gut im Griff. Da gehen wir zwar nicht Roller fahren, aber wir gehen raus und marschieren zum Kindergarten. Nur am Wochenende hat sich das noch nicht wieder normalisiert. Der Versuch, Jim morgens aus dem Schlafanzug zu schälen, endet gern damit, dass er in voller Montur an der Wohnungstür steht, bereit für Frischluft-Entertainment. Dabei habe ich noch nicht mal den ersten Kaffee intus. Dann denke ich mir: „das muss er aushalten, jetzt muss er warten.“ Aber aushalten muss vor allem ich. Nämlich Jims Wutanfall. Irgendwann wird sich das auch wieder legen.

Nicht immer hilft Zeit

Bei Schokokeksen ist Jim allerdings kompromisslos. Außer Prinzenrolle kommt uns hier nichts ins Haus. Das heißt, ins Haus schon, wird aber vom Prinzenrollen-Prinzen ignoriert. Und bitte auch nur das Original, nicht die Rolle vom Discounter oder so. Der Prinzenrollen-PrinzenrolleKeks heißt bei Jim übrigens auch „Ball“ statt Keks, weil auf der Packung seit einiger Zeit ein Fußball abgedruckt ist. Soviel zur Transferleistung, die er an den Tag legt, wenn er das richtige Wort nicht sagen kann.

Mir ist bewusst, dass viele Menschen denken, Jim solle sich nicht so anstellen. Dass wir ihn einfach öfter aus seiner Komfortzone holen müssen. Oder dass man da einfach konsequenter erziehen muss. Tatsächlich ist es aber so, dass Jim bei jeder Veränderung sein System neu programmieren muss. Er braucht länger, um sich auf Neues einzustellen und um zu lernen, dass die Tage verschiedene Abläufe haben können. Weil er im Sprachverständnis Schwierigkeiten hat, ist es meist nicht besonders hilfreich, ihm das zigmal zu erklären. Wir haben gelernt, dass es einfach Zeit braucht. Die soll Jim auch haben.

Eine große Unterstützung wäre ein Struktur Board. Eine Tafel, auf der wir Jim jeden Tag seinen Tagesablauf abbilden könnten. Mit Bildern und Symbolen zum besseren Verständnis. Ich habe zwar Stundenpläne schon in der Schule gehasst, aber wenn es Jim hilft, dann soll es so sein. Die Boards, die man kaufen kann, sind nur alle so unglaublich hässlich, dass ich es nicht übers Herz bringe, so ein Teil zu kaufen. Da hilft nur selber basteln. Jetzt im zweiten Lockdown schaffe ich das hoffentlich. Ich brauche nämlich auch manchmal einfach Zeit. Die will ich mir nehmen.