Das „richtig reagieren“ Einmaleins

Das „richtig reagieren“ Einmaleins

09/01/2021 8 Von Marison

Vor einigen Tagen durfte ich auf dem Blog von Stadt-Land-Mama einen Gastbeitrag veröffentlichen. Darin habe ich unter anderem erwähnt, dass es zwei Reaktionen gibt, wenn ich sage, dass Jim eine Autismusspektrumstörung hat: es gibt die Abwinker und die Bemitleider. Über beide habe ich mich ausgelassen, fast beschwert. Der Artikel hat viel positive Resonanz erhalten, aber es gab auch Kritik: Schade, dass sich in solchen Artikeln immer nur beschwert, aber nie aufgezeigt wird, wie man sich denn richtig verhält als Außenstehende/r. Ein berechtigter Einwand, der ein Anstoß für mich war. Ein Anstoß, um mal darüber nachzudenken, welches Verhalten und welche Reaktion ich mir denn wünschen würde. Gar nicht so einfach zu beantworten.

Bevor ich mit Lösungsansätzen starte, finde ich es wichtig anzumerken, dass das MEINE ganz persönliche Empfindung ist. Was ich als angemessen und richtig empfinde, mag auf andere übergriffig oder unangemessen wirken. Es gibt kein Patentrezept für „richtig reagieren“, kein Regelwerk. Es gibt drei ganz klassische Situationen, für die ich Lösungen anbieten möchte. Grundsätzlich kann man sich aber auch einfach fragen: Wäre ich in der Situation, was würde mir helfen/was würde ich als angemessen empfinden? Damit macht man selten etwas falsch.

Die zufällige Begegnung

Die Situation

Im Supermarkt, auf dem Spielplatz, beim Spaziergang, in der U-Bahn… Kinder haben etwas an sich, das Erwachsene mit absoluter Sicherheit dazu verleitet, sie anzusprechen. Ist ja auch erstmal nichts Schlimmes. In der Regel ist es lieb gemeint und freundlich. Jim hat keine Angst vor Fremden. Er antwortet aber nicht auf ihre Fragen. Wir laufen nicht mit einem Schild durch die Gegend, auf dem steht, dass er Autist ist. Es kann also auf den ersten Blick niemand wissen. Lassen die Erwachsenen nicht locker und bohren mit ihren Fragen immer weiter, dann erkläre ich die Situation meist kurz. Das ist dann der Moment, in dem die bereits erwähnten Abwinker und Bemitleider zur Höchstform auflaufen. Die Bemitleider sind schnell ausgebremst, in dem man das Gespräch einfach abwürgt. Die Abwinker allerdings lassen einfach nicht locker. Sie haben mit Sicherheit auch eine Story über irgendeinen Bekannten, der auch erst als Teenager gesprochen hat. Und überhaupt müsse man auch einfach mal ein bißchen strenger sein mit der Brut. Diese Unterhaltungen nerven kolossal und sind schlichtweg unangebracht.

Ich habe großes Verständnis, wenn jemand nicht informiert ist über Autismus. Ich war es vor Jim auch nicht. Das ist nicht der Vorwurf, den ich mache. Aber: Unwissenheit ist keine Entschuldigung für übergriffiges und unsinniges Verhalten. Denn was ist denn die Geschichte des Bekannten, der erst so spät anfing zu sprechen? Ist sie überhaupt vergleichbar mit unserer Situation? Im Gegensatz zu Kindern, die ganz unbefangen sind, stellen Erwachsene immer sofort Vergleiche an und haben das Gefühl, unbedingt etwas dazu sagen zu müssen. Jedes Mal, wenn jemand abwinkt, wird unsere Herausforderung klein gemacht, nicht ernst genommen. Und ey, mal ehrlich: wir müssen uns eh schon andauernd vor Ämtern, Krankenkassen und Ärzten rechtfertigen. Das will ich nicht auch noch bei Wildfremden tun müssen, die mir eh nicht zuhören wollen, sondern eigentlich nur erzählen wollen, dass sie „auch jemanden kennen, der…“ usw.

Die Lösung

Jim ist ein Mensch mit eigenen Gefühlen. Sein Sprachverständnis ist zwar auch eingeschränkt, aber oft versteht er mehr, als wir glauben. Vielleicht kann er den Inhalt noch nicht begreifen, aber er merkt sicher, dass über ihn gesprochen wird. Seine fehlende Sprache ist ihm durchaus bewusst und ist oft Grund für enorme Frustration bei ihm. Wir schämen uns nicht dafür (warum auch?) und erklären gern, wenn jemand etwas wissen möchte. Fragen darf man alles. Voraussetzung ist allerdings, dass die Fragen ernstgemeint sind und die Antworten akzeptiert werden.

Eine gute Frage ist zum Beispiel: „wie kann ich mit Jim in Kontakt treten?“ Das zeigt nämlich, dass sich jemand auf Jim einlassen möchte und nicht die nächstbeste „Das wird schon“-Geschichte über ihn stülpen will. Ich freue mich auch jedesmal, wenn wir gefragt werden, wie das für uns im Alltag funktioniert und wie er sich mitteilt. Denn so wie andere Eltern gern darüber berichten, welches Fußballturnier das Kind gerade wieder gewonnen hat oder wie toll die Kinder schon reiten können, erzähle ich gern, wie Jim das Scripten für seine Kommunikation nutzt und wie wir das in unserem Alltag einsetzen.

Der Unterschied zwischen Sensationsgier und echtem Interesse ist, dass das echte Interesse nie darauf abzielt, Jim irgendwann „normal“ werden zu lassen. Jim ist der, der er ist. Seine Wahrnehmung wird IMMER anders sein. Der Autismus verschwindet nicht einfach. Die Frage, ob er irgendwann funktional sprechen wird, stellen wir uns nicht, denn darauf gibt es keine Antwort. Das wird allein die Zeit zeigen, niemand kann uns die Zukunft voraussagen. Alles, was ich tun kann, ist so offen und ehrlich wie möglich darüber zu berichten und aufzuklären. Dazu muss man mich aber auch ausreden lassen und nicht sofort mit einer Success Story um die Ecke kommen.

Es ist übrigens auch total okay, einfach gar nichts zu sagen. Niemand MUSS sich für Jim und seine ASS interessieren. Niemand muss peinlich berührt sein. Ehrlich, es ist auch völlig in Ordnung zu sagen: „Ich habe keine Erfahrung mit Autismus und auch keine Berührungspunkte. Ich weiß nicht, was jetzt richtig oder falsch ist zu sagen.“ Manchmal kann man es auch einfach auf sich beruhen lassen. Oder man macht es wie der Junge letztens im Park, der mit Jim spielen wollte und sich wunderte, warum Jim ihm nicht antwortete. Nachdem ich ihm das erklärt hatte, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: „Macht ja nix, man kann ja auch spielen ohne dabei zu reden. Oder ich erzähle ihm eine Geschichte. Vielleicht gefällt ihm das.“ Und dann sind die beiden Jungs einfach nebeneinander her gelaufen. Der eine hat erzählt, der andere hat zugehört.   

Das Play Date

Die Situation

Verabredungen zum Spielen gibt es bei uns so gut wie nicht. Manchmal kommt es vor, dass ich mich mit Freundinnen verabrede, die Kinder im ähnlichen Alter haben. Meistens kennen sich die Kinder gar nicht wirklich. Treffen sie dann aufeinander, sind die anderen Kinder oft enttäuscht oder traurig, weil Jim nicht mit ihnen spielt oder „irgendwie komisch“ ist. Rollen- oder „So-tun-als-ob“-Spiele sind für ihn unverständlich. Bei Brettspielen sind Regeln für ihn unklar. Malen mag er nicht. Am Ende sind nicht nur die Kinder traurig, sondern ich irgendwie auch, denn in diesen Momenten wird mir der Unterschied zwischen Jim und neurotypischen Kindern besonders bewusst, und ich frage mich, ob es jemals eine „normale“ Verabredung zum Spielen geben wird.

Die Lösung

Vor einiger Zeit war ich bei einer Freundin, die einen fünfjährigen Sohn hat, also ein bißchen älter als Jim. Die beiden Kinder kannten sich flüchtig. Meine Freundin hatte vor unserem Besuch etwas Tolles gemacht: sie hatte ihren Sohn darauf vorbereitet. Sie sagte ihm, dass er nicht traurig sein soll, wenn Jim nicht mit ihm spielt oder spricht, weil er da eben Schwierigkeiten hat. Aber dass Jim es sicher spannend findet, wenn er ihm seine HotWheels-Sammlung und seine Puzzle zeigt. Und genau das hat er dann auch getan. Gespielt haben die beiden nicht gemeinsam, aber Jim war im HotWheels-Himmel und Puzzle-Paradies. Und der Sohn meiner Freundin war stolz, alle seine Sachen präsentieren zu können. Am Ende waren beide Kinder entspannt und gut gelaunt. Und wir Eltern dadurch auch. Jim fand es so super, dass er mir eine ganze Woche lang auf seine Weise in den Ohren lag, dass er wieder hin möchte. Liebe Freundin, mach dich bereit: sobald man wieder darf, reiten wir ein.

Das Briefing war klug, denn so entstand keine Erwartungshaltung. Seitdem schlage ich meinen Freundinnen vor, ihre Kinder vorzubereiten, bevor wir uns treffen. Das nimmt allen viel Stress.

Der öffentliche Meltdown

Die Situation

Auf den ersten Blick wirkt ein Meltdown wie ein heftiger Trotzanfall. Tatsächlich ist es aber ein absoluter Ausnahmezustand, totale Systemüberlastung, Kernschmelze. Bei Jim ist das so: irgendetwas triggert den Meltdown und dann verfällt er in einen absoluten Panikzustand, aus dem man ihn nur sehr langsam wieder raus bekommt. Sein Blick verändert sich. Er schreit. Er rennt weg. Manchmal tritt und kratzt er. Viele Kinder mit ASS werden aggressiv und/oder autoaggressiv. Jim fügt sich selbst keine Verletzungen zu, aber es gab Zeiten, in denen ich viele blutige Kratzer im Gesicht hatte.

An einem Meltdown kann man nichts Lustiges oder Schönes finden. Es ist ein schrecklicher Zustand. Für diejenigen, die den Meltdown haben, muss es furchtbar sein.  Zuhause bekommen wir einen Meltdown ganz gut in den Griff. Hier kann auch einfach nicht viel passieren. Wirklich schwierig wird es, wenn wir unterwegs sind. Dabei sind zwei Sachen besonders anstrengend: zum einen das Gefahrenpotenzial, denn Jim windet sich mit viel Kraft aus jeder Umarmung und rennt einfach los. Passiert das an einer Straße, geht mir ganz schön die Pumpe. Ich kann ihn nicht einfach an einen sicheren Ort tragen, denn er wehrt sich mit all seiner Kraft (und ein Vierjähriger kann erstaunlich viel Kraft haben). Also müssen wir versuchen, den „Fluchtweg“ zur Straße zu blockieren, damit nichts passiert. Zum anderen spüren wir als Eltern natürlich die Blicke der anderen wie Messer im Rücken. Uns ist bewusst, dass wir angestarrt werden. Leute bleiben stehen, drehen sich nach uns um, schütteln den Kopf.

Besonders wenig Verständnis habe ich für die Menschen, die fragen: „Was hat er denn?“ Mag lieb gemeint sein, hilft aber genau gar nicht. Erstens weiß ich es oft nicht, und zweitens habe ich keine Zeit für Erklärungen, wenn ich gerade mein Kind davor bewahre, schreiend in den rollenden Feierabendverkehr zu rennen. Wirklich schlimm wird es, wenn jemand Jim direkt anspricht à la „Ja, musst du denn so weinen? Was ärgert dich denn so?“ Auch das ist sicher lieb gemeint, aber jeder neue Reiz potenziert den Meltdown und treibt uns in eine Abwärtsspirale.

Die Lösung

Der Meltdown ist eine extreme Stresssituation und überwältigend für alle Beteiligten. Bitte nicht starren oder Kopf schütteln. Wer nicht helfen will/kann, dem möchte ich sagen:  Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! Wer unterstützen möchte, der tut einfach was. Vor einigen Monaten hatte Jim einen schlimmen Meltdown. Direkt an einer Straßenkreuzung. Ich war allein mit ihm und unserem Hund unterwegs. Es passierte, als wir gerade über die Straße gehen wollten. Wir standen also genau an der Bordsteinkante. Kein guter Ort. Ich hatte meine liebe Not, Jim und den Hund von der Straße fernzuhalten, während hupende Autos an mir vorbeifuhren und lauter Leute sich nach uns umdrehten. Dabei ist meine Tasche auf die Straße gefallen. Und ich gehöre zu den Menschen, die ihre Tasche nie richtig zumachen.

Eine Frau sammelte meine Sachen ein, machte die Tasche zu und warf sie sich über die Schulter. Dann ging sie ein Stück auf die Straße, um die Autos ein wenig abzubremsen, während ich irgendwie versuchte, Jim weiter von den Straße zu entfernen, der sich mit aller Kraft wehrte. Es muss  wie ein UFC-Finalkampf ausgesehen haben. Als ich an einer Hauswand angekommen war, kam sie zu mir, stellte meine Tasche ab und bot mir an, den Hund zu halten, damit ich Jim weiter beruhigen konnte. War allerdings nicht nötig, denn Jim brauchte den Hund, um wieder zu sich zu kommen. Ich bedankte mich flüchtig bei ihr, ich war noch ziemlich aufgeregt. Sie fragte noch einmal nach, ob ich sicher sei, dass ich keine Hilfe mehr brauchte. Ich versicherte ihr, dass ich jetzt zurecht käme, und da war sie auch wieder weg. Ich denke oft an sie, denn ihre Hilfe war in dem Moment genau richtig. Sie legte einfach los. Sie tat, was sie in dem Moment tun konnte, ohne mich zu fragen. Ich hätte in der Situation wahrscheinlich auch keine Anweisungen geben können. Und sie akzeptierte diskussionslos, dass ich sie ab einem bestimmten Punkt nicht mehr „brauchte“.

Ich habe die Frau nie wieder gesehen. Ich würde mich gern nochmal richtig bedanken. Dazu war ich damals nicht in der Lage. Ich hoffe, dass sie mir angemerkt hat, wie dankbar ich war, und sie nicht enttäuscht war, dass ich ihre Hilfe nicht entsprechend würdigen konnte. Ich musste nämlich erstmal sehr tief durchatmen.

Zu guter Letzt, für diejenigen, denen Hilfe angeboten wird: nehmt sie ruhig mal an. Man muss das nicht immer allein unter Kontrolle haben oder durchstehen.

Habt ihr noch andere Lösungsansätze oder Wünsche zu dem Thema? Ich freue mich auf eine Diskussion und den Austausch.