Das Problem mit dem Problem

Das Problem mit dem Problem

10/06/2021 0 Von Marison

Wir bekommen oft lieben Zuspruch. Jim sei ein unglaublich charmanter Junge. So süß. Ein tolles Kind. Finden wir auch. Meistens wir das Kompliment noch mit einem Zusatz versehen, der das eben Gesagte wie eine Abrissbirne zum Einsturz bringt. „Schade, dass er dieses… ähm… (flüster) Problem hat.“ Mal ist es Problem, mal Herausforderung, Spezialität, Besonderheit, Beeinträchtigung, Special Feature. You name it, we’ve heard it. Selten wird das Wort Autismus konkret ausgesprochen. Ich habe ein Problem mit dem Problem und das hat folgende Gründe:

Jim KeksNenn das Kind doch mal beim Namen

Es gibt Wörter, die anscheinend nur hinter vorgehaltener Hand gesagt werden können. Weil irgendwie unangenehm. Für diejenigen, die sie sagen. Warum auch immer. Autismus, pssst. Behinderung, schschsch… das sagt man doch nicht. Nicht so laut, lieber so tun als wär nix. Ich verrate jetzt was: der Autismus geht nicht weg, nur weil man ihn nicht benennt. Die Behinderung verschwindet nicht einfach, nur weil man im Flüsterton spricht. Immer dann, wenn die Dinge nicht beim Namen genannt werden, werden sie kleingemacht. So klein, als wären sie nicht der Rede wert. Wem ist damit geholfen? Genau: denjenigen, die sich in ihrem Alltag nicht damit auseinandersetzen müssen.

Unnötiger Kampf

Diejenigen, die betroffen sind, müssen andauernd laut sein und kämpfen, dass sie anerkannt werden. Zusätzlich zu all den Kämpfen, die sie eh austragen müssen, wenn es um Behörden, Ämter, Krankenkassen etc. geht. Ganz schön viel Kampf, wenn ihr mich fragt. Wie schön wäre es, wenn wir alle gemeinsam dafür sorgten, dass diese Bemühungen um sprachliche Anerkennung und Identifikation nicht sein müssten? Wenn wir unseren Kindern beibrächten, dass es keine Schimpfwörter sind? Das geht letztlich nur, wenn wir anfangen, diesen Wörtern ihren schamhaften Beigeschmack zu nehmen.

Wer hat eigentlich das Problem?

Immer wenn ich höre „… wenn Jim nur nicht dieses Problem hätte“ zucke ich. Es ist nicht meine Absicht, mich hier darüber zu beschweren. Vielmehr möchte ich aufklären, in der Hoffnung, dass sich ein Schalter umlegt. Ich will ehrlich sein: der Schalter musste sich auch bei mir erst umlegen. Es ist eben so: solange man selber nicht damit konfrontiert ist, hat man vielleicht Mitleid oder zumindest Mitgefühl mit Menschen, die nicht neurotypisch sind. Ach herrje, was muss das für ein schwieriges Leben sein. Eigentlich ist aber Jims Problem nicht der Autismus. Jims Problem ist, dass seine Umwelt den Autismus zum Problem macht. Jim selber hat kein Problem. Für ihn ist das seine Normalität. Er kennt es nicht anders. Und für uns ist es auch Normalität geworden. Das gilt für uns im Moment. Vielleicht wird es für Jim mal ein Problem, wenn er älter wird. Wer weiß das schon?! Es gibt sicher Autist*innen, für die der Autismus durchaus ein Problem darstellt. Nur weil es für uns gerade nicht so ist, bedeutet das nicht, dass es generell nicht so ist.

Jim schautEin süßer Aus-der-Reihe-Faller

Die Art und Weise, wie dieser Satz gesagt wird, hat auch immer etwas Defizitäres. Als wäre Jim nicht intakt. Als würde man eigentlich sagen wollen: wenn er das nicht hätte, wär er perfekt, zu schade…! Was für ein absurder Gedanke! Denn was vielen wahrscheinlich nicht bewusst ist: sie finden Jim vor allem deshalb süß und charmant, eben WEIL er Autist ist. Weil er sich anders ausdrückt, anders verhält. Weil er mit seinen großen, blauen Augen anders in die Welt schaut und sie aufnimmt. Weil er Sachverhalte anders verknüpft. Kein Rowdy ist, sondern gern kuschelt. Die lustigsten Dinge sagt, weil er sie irgendwo mal aufgeschnappt hat (Oma Gommes bzw. oh my goodness). Er fällt aus der Reihe bei seinen Altersgenossen, deshalb fällt er auf.

Kein richtig oder falsch

Jim ist Jim. Jim ist ein toller Junge. Jim ist Autist. Jim nimmt die Welt und sein Umfeld anders wahr als neurotypische Menschen. Das ist weder richtig noch falsch. Es ist einfach so. Ich wünsche mir, dass die Menschen Jim als Person wahrnehmen. Es muss nicht heißen: „Das ist Jim. Jim ist Autist.“ Aber wenn es darum geht, dass Jim Autist ist, soll es auch gesagt werden. Ganz ohne Schönmalerei, Befremdlichkeit oder Scham. Denn es ist nicht befremdlich oder zum Schämen. Niemals möchte ich es verheimlichen oder kleinreden, dass Jim nicht neurotypisch ist. Deshalb sprechen wir ja auch so offen darüber. Letztendlich zählt nur, dass Jim gut im Leben zurechtkommt und ein glücklicher Mensch ist, der so an- und aufgenommen wird, wie er ist. Dann nämlich ist das Problem nicht mehr der Rede wert!