Das ist ganz normal
Schon eine Weile vor Jims Diagnose, auch schon vor dem Verdacht, hatte ich mir etwas abgewöhnt: das Vergleichen. Sich dem Vergleich zu entziehen passiert nicht einfach so, es ist tatsächlich eine Anstrengung. Welches Kind schläft schon durch, welches krabbelt schon oder macht erste Gehversuche, wer stillt am längsten, wer hat die schlimmeren Nächte weil Zähne… der Mütterwettkampf um nichts ist wirklich unerbittlich. Bei uns war es gefühlt immer anders. Und genau deswegen habe ich viel Energie eingesetzt, um die Vergleiche nicht mehr zu hören. Und vor allem: sie selbst nicht mehr anzustellen.
Der Vergleich hinkt
Man kann machen, was man will – ganz entziehen kann man sich der Sache trotzdem nicht. Es ist nun so, dass andere sehr aktiv den Vergleich mit uns anstellen. Wobei der Vergleich dann nicht wirklich ein Vergleich ist, sondern viel mehr eine Relativierung. Wenn ich für jedes Mal „aber das ist eben auch das Alter!“ oder „meine Kinder machen das auch!“ einen Euro bekäme, könnte ich mit Jim wahrscheinlich monatlich in die Karibik zu einer sündhaft teuren Delfin-Therapie fliegen.
Die Sache ist die: die Menschen, die diese Sätze sagen, meinen es gut. Sie wollen ja sagen: Ich fühle das, ich sehe dich, ich kenne das, du bist nicht allein. Es soll mir zeigen: eigentlich biste doch eine von uns! In den meisten Fällen allerdings – nämlich dann, wenn diese Menschen keine neurodivergenten Kinder haben – möchte ich ihnen ins Gesicht brüllen: Nein, du fühlst das nicht, du siehst mich nicht, du kennst das nicht, und nein, ich bin nicht allein, aber ich fühle mich oft so! Es steht völlig außer Frage, dass es anstrengend und kräftezehrend ist, Kinder großzuziehen, ganz gleich ob neurodivergent oder neurotypisch. Es liegt in der Natur der Sache, dass man an seine Grenzen stößt. Ist halt so, wenn man plötzlich nicht mehr nur für sich allein verantwortlich ist, sondern die fast unmenschliche Verantwortung für andere Menschen hat. Keinesfalls möchte ich Eltern neurotypischer Kinder ihre Erschöpfung absprechen. Aber „ich fühle das, ich sehe dich, ich kenne das“ kann ich nicht einfach so im Raum stehen lassen. Here is why:
„Das schmeckt mir nicht“ vs. „Das kann ich nicht essen.“
Dein Kind möchte auch am liebsten jeden Tag und den ganzen Tag nur Pommes oder Schokolade essen? Du kochst immer nur „das-mag-ich-nicht“ oder „das-ess-ich-nicht“? Und deshalb hat bei euch die Methode „das Kind wird’s schon essen, wenn es Hunger hat“ erfolgreich Einzug gehalten? Es ist sicher altersgerecht, dass viele Kinder bestimmte Lebensmittel ablehnen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass sie selbst entscheiden wollen (wer kann es ihnen verübeln?). Im Fall von autistischen Kindern liegt die Herausforderung aber nicht im Nicht-wollen sondern im Nicht-können! Es liegt nicht daran, dass es ihnen nicht schmeckt, sondern daran, dass sie bestimmte Lebensmittel sensorisch nicht aushalten.
Jim zum Beispiel ist der ungeschlagene Schokoladenkönig. Und er wünscht sich oft Schokoeis oder Schokopudding. Aber er kann es dann nicht essen, weil er mit der Konsistenz oder der Temperatur nicht zurecht kommt. Gleiches gilt für sämtliches Gemüse oder Obst. Außer Erbsen und Äpfel. Musst du den Nährstoffhaushalt deines Kindes mit Äpfeln, Schokolade und Erbsen decken? Nein? Hab ich mir gedacht. Der Vergleich hinkt also. (Anmerkung: das Thema Ernährung ist viel umfangreicher als dieser kleine Absatz. Viele autistische Kinder haben eine selektive Essstörung. Dazu kann ich mich nicht wirklich äußern, weil ich mich zu wenig auskenne. Finde es aber wichtig, das hier zu erwähnen.)
Vom unsichtbaren Organisationsaufwand
Die Themen Schule oder Kindergarten stressen dich auch sehr, weil ihr noch keine Zusage von eurer Wunschschule/-Kita bekommen habt, in die doch alle Freund*innen deines Kindes gehen? Nun, für uns ist diese Frage komplexer. Denn wir müssen erstmal schauen, welche Schulform es überhaupt sein kann. Und wenn die gefunden ist, müssen wir hoffen, einen der rargesäten und heißumschwärmten Plätze zu ergattern. Welche Schule hat ein wirklich gutes Inklusionskonzept und ist für uns logistisch machbar? Wie organisiere ich eine Assistenz? Wie funktioniert das mit dem Nachteilsausgleich? Und wird ein Kind wie Jim im Klassenverband wirklich aufgenommen? Gibt es eine Nachmittagsbetreuung für neurodivergente Kinder und können Therapien dort abgewickelt werden oder muss ich das extra organisieren? Der organisatorische Aufwand und der zusätzliche Mental Load sind enorm. Es reicht für uns nicht, bei dem ein oder anderen Tag der offenen Schultür aufzuschlagen und eine tolle Schulbewerbung zu schreiben. Der Vergleich hinkt also.
Ewiges Rätselraten
Dein Kind erzählt dir auch nicht, wie es in der Kita/Schule war? Du fragst auch immer, aber hörst dann nur ein „Gut.“? Im Fall von Jim und vielen anderen autistischen Kindern liegt der mangelnde Informationsfluss auch hier nicht am Nicht-wollen, sondern am Nicht-können. Jim kann mir nicht sagen, wer seine Freunde sind, ob er welche hat, was es zum Mittagessen gab oder ob sie heute ein neues Spiel gespielt haben. Ob er einen guten Tag hatte oder nicht, erfahre ich entweder von seinen Pädagoginnen (wenn sie zur Abholzeit noch da sind) oder eben anhand seiner Stimmung. Wenn ich ganz großes Glück habe, summt er mal ein für mich unverständliches Lied. Aber ob die Kinder sich verabredet haben und Jim vielleicht Teil der Verabredung war, bleibt für mich ein unlösbares Rätsel. Der Vergleich hinkt also.
Und jetzt alle: EIN MELTDOWN IST KEIN WUTANFALL!
Dein Kind hat auch oft Wutanfälle, muss seinen Willen auf Biegen und Brechen durchsetzen und strapaziert deine Nerven bis aufs Äußerste? Ja, das ist extrem anstrengend. Keine Frage! Aber du bleibst dann konsequent und irgendwann hat dein Kind es dann kapiert? Oder du kannst mit „erst das, dann das“ den Wutanfall langsam beenden? Super! Ehrlich. Bei uns sind es tatsächlich selten Wutanfälle. Und ich bin überzeugt davon, dass es Jim auch nicht darum geht, seinen Willen durchzusetzen. Auch hier geht es nicht ums Wollen, sondern ums Können. Zeitliche Abläufe sind für Jim schwer greifbar. Sie sind nur dann für ihn verständlich, wenn es sich um gewohnte Alltagssituationen handelt. Und das Belohnungssystem haben wir nie eingeführt, weil ich ja auch nicht alle halbe Stunde ein Geschenk aus der Schublade zaubern kann (oder möchte).
Was du als Wutanfall interpretierst, ist meist etwas anderes: ein Zustand völliger Verzweiflung, oft ausgelöst durch Überreizung und fehlendes Verständnis. Das kann durch eine leere Kekspackung entstehen. Oder durch die Tatsache, dass es regnet. Es ist vor allem ein Zustand absoluter Kompromisslosigkeit. Wenn wir auf dem Spielplatz von einem Regenschauer überrascht werden, kann ich Jim nicht mit „ja, die Hose ist jetzt nass. Also gehen wir nach Hause und ziehen eine trockene Hose an“ beruhigen. Jim ist so sehr im Jetzt, dass die logische Abfolge der Dinge nicht bis zu ihm durchdringt. Auch die Tatsache, dass es immer schlimmer wird, wenn wir nicht nach Hause gehen, macht es nicht besser. Und so sieht mich das ganze Viertel mit einem hyperventilierenden, kreischenden Kind auf dem Arm durch den Regen stapfen und denkt sich: „na, dem Rotzbengel muss man aber mal Benehmen beibringen!“ während Jim um sein Leben schreit. Es ist einfach nicht gleichzusetzen mit einem altersgerechten Wutanfall. Der Vergleich hinkt also.
Für die einen Spaß, für die anderen Stress
Du findest, Jim sollte auch einfach mal zu dem Fußballtraining gehen, das deinem Kind so gut gefällt? Er hätte dort sicher großen Spaß, schließlich tobt dein Kind sich dort regelmäßig richtig aus? I hate to break it to you, aber: glaubst du nicht, wir hätten sowas schonmal versucht? Das Ergebnis war ein tagelang schwer überreizter Jim, total durcheinander, weil er das Konzept „Mannschaft“ nicht verstanden hat und der Hobbytrainer nicht ausgebildet ist, um Kinder wie Jim besser anzuleiten, Eltern aber auch nicht erwünscht sind. Und stell dir mal vor: beim kurzen Kicken zum Trainingsabschluss macht Jim nicht das, was seine Mannschaft von ihm erwartet. Weil auch Ehrgeiz ein Konzept ist, das sich ihm nicht erschließt. Da wär aber was los auf dem Platz. Auch hier ist es nicht das Nicht-wollen, sondern das Nicht-können. Der Vergleich hinkt also.
Nicht mehr. Nicht weniger. Anders.
Das sind nur wenige Beispiele. Ich könnte ganze Regalwände mit diesen Vergleichen befüllen. Und weil es dir jetzt vielleicht unangenehm ist, dass du hin und wieder eben diese Relativierung im Gespräch mit mir hast fallen lassen, möchte ich dir sagen: das muss es nicht. Es muss dir wirklich nicht unangenehm sein. Solange du mir jetzt zugehört hast, mich siehst und verstehst: Wir haben unterschiedliche Herausforderungen und struggles. Deine sind nicht mehr oder weniger anstrengend als meine. Sie sind anders. Der Vergleich hinkt einfach immer. Komm, wir belassen es dabei und unterhalten uns einfach mal über was anderes als unsere Kinder. Es soll im Leben ja noch andere Themen geben, habe ich mir sagen lassen.
Liebe Marison,
sich über etwas anderes als meine Kinder unterhalten finde ich immer gut. Wenn es aber doch dazu kommt, welche Reaktion würdest du dir wünschen, wenn du erzählst? zB ein Nachfragen, was du dann in der Situation machst? Oder was würdest du dir wünschen? Ich lese deinen Block super gerne!
Liebe Marie,
das ist eine berechtigte Frage. Es kommt einfach immer auf die Situation drauf an. Bei einer flüchtigen Begegnung auf dem Spielplatz erwarte ich erstmal gar nichts. Da kläre ich aber auch selten auf, weil ich dafür nicht immer Kapazitäten habe. Bei Bekannten wünsche ich mir folgendes: geht es um Erfolgsmomente, dann wäre ein „wie toll!“ schön anstelle von „ja, das hat XY auch ganz schnell gelernt“. Denn oft stecken hinter diesen Erfolgsmomenten sehr lange Übungsphasen. Es ist schön, wenn das einfach mal kurz für sich Raum einnehmen kann. Bei herausforderndem Verhalten ist ernstgemeintes Nachfragen toll, also z. B. „Wie geht es dir damit?“ oder „welche Möglichkeiten gibt es, die Situation zu lindern?“. Wichtig ist, dass die Nachfrage ernstgemeint ist und nicht nur eine Floskel oder Mitleidsbekundung. ❤️