Darf ich das?

Darf ich das?

11/01/2022 3 Von Marison

Seit 15 Monaten schreibe ich öffentlich über unser Leben. Über Jims Autismus-Diagnose und über uns als Familie. Ich zeige unsere Gesichter und schreibe unter Klarnamen. Das mache ich ganz bewusst. Und nein, ich habe Jim nicht um sein Einverständnis gebeten. Ich setze das – zumindest im Moment – voraus. Das mag für viele befremdlich sein. Vielleicht sogar verantwortungslos. Ich habe aber meine Beweggründe dafür.

Als ich anfing ernsthaft über einen Blog nachzudenken, stand natürlich die Frage im Raum, in welcher Form und vor allem wie offen ich erzählen möchte. Ich war mir nicht sicher, ob ich uns wirklich so offen präsentieren möchte. Und ob es für Jim einmal nachteilig sein könnte. Wir Eltern haben viele Gespräche darüber geführt, denn natürlich hatten wir Bedenken.

Das Kind beim Namen nennen

Ich fing einfach mal an zu schreiben. Und dabei stellte ich fest, dass es sich unglaubwürdig anfühlte, nur von „J.“ oder „dem Kind“ zu erzählen. Am Anfang war der Blog eher eine Art Tagebuch für mich. Meine eigene kleine Therapiesitzung, in der ich einfach erzählen konnte. Und das musste authentisch sein. Gleichzeitig habe ich beim Lesen anderer Blogs gemerkt, dass es mir schwerfiel eine Verbindung aufzubauen, wenn Eltern ihren Kindern Kosenamen für die Texte gaben. Auch wenn ich die Intention dahinter verstehen konnte (und auch immer noch kann), fühlten sich die Geschichten für mich nie wirklich authentisch und nachvollziehbar an. Es war nicht greifbar für mich, einfach zu weit weg. Ich wollte im wahrsten Sinne das Kind beim Namen nennen.

Jim darf ichBilder im Kopf

Ähnlich ging es mir bei den Bildern. Und auch wenn ich hier natürlich verstehe, weshalb Eltern ihre Kinder unkenntlich machen: die verpixelten Gesichter sind für mich immer ein bißchen spooky. Ähnlich wie bei den fehlenden Namen kommt für mich überhaupt keine Verbindung zustande. Es berührt mich einfach nicht. In meinem Kopf entstehen keine Bilder. Aber hey, ich bin nicht das Maß aller Dinge und meine Empfindung ist eben MEINE. Nur weil etwas mir nicht besonders zusagt, ist es nicht schlecht oder falsch. In diesem Fall ja eher das Gegenteil, denn die Intention hinter den Kosenamen und den verpixelten oder unkenntlich gemachten Bildern ist ja sehr deutlich: der Schutz der Kinder. 

Präsent sein als Schutzmaßnahme

Ich sehe die Sache mit dem Schutz noch aus einer anderen Perspektive in Bezug auf Jim. Der Schutz, den ich ihm bieten kann (und will), besteht in erster Linie aus Aufklärung und Wissen. Unter anderem eben auch dem Wissen, dass eine Behinderung nicht immer sichtbar ist. Und trotzdem vorhanden. Wer Jim sieht, sieht erstmal einen fröhlichen Jungen, der das Leben aufsaugt mit allem, was es zu bieten hat. Er scheint sorgenfrei und völlig problemlos den Tag zu absolvieren. Und so geht es vielen, vielen Menschen mit einer Behinderung. Indem wir aufklären und offen sagen, was für Jim schwieriger ist als für andere Kinder in seinem Alter, hoffen wir, dass die Akzeptanz für autistische Kinder zunimmt. Bis jetzt sind wir damit gut gefahren (rw). 

Die Grenzen meiner Offenheit

Bei aller Offenheit habe ich mir selbst aber auch Grenzen gesetzt. Ich zeige Jim nicht um jeden Preis und ich erzähle auch nicht alles. Hier gibt es kein Set Up für Fotos und Bildbearbeitung war eh noch nie meine Stärke. Der Blog ist ehrlich und wertschätzend. Jim wird nicht in wehrlosen Situationen gezeigt. Bilder oder Geschichten, die er mal als unangenehm empfinden könnte, bleiben unveröffentlicht. Wenn der Tag kommt, an dem er die Tragweite dieses Blogs begreifen kann, soll er zufrieden sein können damit und sich nicht schämen müssen.

Die andere Grenze ist, dass ich mir fest vorgenommen habe, diesen Blog nicht zu monetarisieren. Ich will kein Geld damit verdienen. Davon mal abgesehen, dass dazu eh noch ein paar Tausend Follower fehlen: wer darauf wartet, dass es irgendwann mal Rabattcodes für „ die bequemsten Leggings der Welt“, Duftkerzen, Sport Outfits oder Nahrungsergänzungsmittel gibt, wird bitter enttäuscht werden. Ich sag’s lieber gleich. Jims Journey ist als Selbsthilfe-Projekt für mich an den Start gegangen und hat auf dem Weg viele Familien mitnehmen können, die sich in unserer Geschichte wiederfinden konnten. Daraus sind zum Teil Freundschaften entstanden. So pathetisch das klingt: das allein ist viel wertvoller für mich als ein paar Euro. 

Jim darf ich Ich darf das

Irgendwann wird auch mal Schluss sein mit Jim’s Journey. Wann das sein wird, weiß ich nicht. Im Moment jedenfalls noch nicht. Das wird entweder mein Gefühl entscheiden oder Jim selbst. Da das Internet nicht vergisst, gehe ich behutsam mit Geschichten und Bildern um, während ich meinem Bedürfnis nach Authentizität nachkomme. Vielleicht wird Jim eines Tages entsetzt vor mir stehen und sagen: „boah, Mama, voll peinlich!“. Vielleicht wird es ihm helfen, seine eigene Geschichte zu verstehen. Und vielleicht findet er das ganze später auch mal ziemlich cool. Wer weiß das schon?! Um die Eingangsfrage „Darf ich das?“ zu beantworten: ja, ich darf das. Bis – und da halte ich es wie Nora Imlau in diesem Interview – Jim alt genug ist um sein Veto einzulegen. Bis dahin werdet ihr noch in diese blauen Augen schauen.

 

Foto: Das Header Foto hat die wunderbarer Marie Haefner im Zuge des Shootings für Brigitte MOM gemacht.