Careful what you wish for

Careful what you wish for

17/02/2023 2 Von Marison

Ich falle ziemlich erschöpft aufs Sofa. Das Tage waren anstrengend. Schön, aber anstrengend. Dabei haben wir gar nicht viel gemacht. Es war anders anstrengend. Mir platzt der Schädel, und ich merke vorsichtig an, dass ich wahrscheinlich die Nerven verliere, wenn ich jetzt noch ein einziges Mal angeschaut – geschweige denn angefasst – werde. Und dann muss ich lachen und „haha, careful what you wish for!“ zu mir selbst sagen.

Hauptsache sitzen

Es ist erst ein paar Jahre her, da saß dieses propere, tolle Kind am liebsten und beobachtete. Bewegung war nicht wirklich was für Jim. Es schien, als hätte er Sorge, er könnte etwas verpassen, wenn er nicht ganz konzentriert beobachtete. FOMO schon als Kleinkind! Bewegung wäre da nur hinderlich gewesen. Während andere Kinder ihre motorischen Grenzen austesteten, saß Jim stoisch da und schaute mit großen Augen in die Welt. Und als die anderen Kinder die Schaukel und das Klettergerüst für sich entdeckten, ließ Jim sich von mir auf die Rutsche heben, um dort sitzenzubleiben und das Geschehen zu bestaunen. Statt mit seinem Roller durch die Gegend zu düsen, stellte Jim sich einfach drauf und ließ sich von mir ziehen. Und überhaupt fand er laufen eh unnötig. Nahm ich ihn nicht auf den Arm, setzte er sich einfach auf den Gehsteig. Sitzstreik. 

Jim RutscheAn manchen Tagen habe ich etwas neidvoll den anderen Kindern zugeschaut, wie sie so über den Spielplatz tollten, fangen spielten und um die Wette kletterten. Und wie sie auch versuchten, Jim zu animieren. Der allerdings hatte einfach null Bock. Er saß. Und saß. Ich habe mich oft gefragt, was wohl in seinem Kopf vorging. Ob er gern mitgemacht hätte, aber einfach nicht wußte wie? Oder ob er sich fragte, weshalb die anderen Kinder das überhaupt machten, obwohl man doch so toll irgendwo sitzen und beobachten konnte? Und ich habe mich gefragt, ob es irgendwann mal aufhört, dass man sich so außen vor fühlt, weil das eigene Kind ganz offensichtlich anders war? Das ein oder andere Mal habe ich mich dabei erwischt, wie ich mir wünschte, Jim würde einfach mitlaufen. Keine Ahnung, warum mir das so wichtig war. 

Irgendwann in vergangenen Jahr hat sich ein Schalter bei Jim plötzlich umgelegt. Als hätte er jetzt genug vom Sitzen und Beobachten. Und als müsste er jetzt die Jahre an Bewegung aufholen, die er sitzend verbracht hatte. Seitdem ist Jim in Dauerbewegung. Auf dem Spielplatz ist er jetzt derjenige, der die anderen Kinder anstachelt und zum Spielen auffordert. Zuhause springt er über Sofa und Sessel als wäre es ein Indoor Spielplatz. Ich weiß nicht, wann er das letzte Mal im Sitzen gegessen hat, das findet eigentlich gar nicht mehr statt. Er rutscht und klettert, springt und rennt, was das Zeug hält. Und manchmal denke ich fast wehmütig an die Zeit zurück, in der Jim oben auf der Rutsche saß und nicht einfach lossprintete. Da wußte ich zumindest immer, wo er war. Careful what you wish for. 

Wenn es sehr still ist…

Bis kurz vor seinem vierten Geburtstag war Jim nonverbal. Wie sich das anfühlt, kann wahrscheinlich nur nachvollziehen, wer das erlebt (hat). Und obwohl ich heute zu denjenigen zähle, die immer wieder erwähnen, dass nicht nur verbale Kommunikation die einzig wahre ist – mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als Jim das erste Mal Mama sagte. Ich habe mir an vielen Tagen und Abenden den Kopf darüber zerbrochen, wie wir Jim helfen können. Und ob es die richtige Entscheidung war, nicht auf alternative Kommunikationsformen zu setzen, sondern weiterhin auf die Verbalsprache hinzuarbeiten. Es sind jede Menge Tränen geflossen. Bei mir. Weil ich traurig war. Es war ein egoistischer Gedanke, aber ich wollte so gern Kindergeplapper durch die Wohnung schallen hören. Dafür hätte ich alles gegeben.

… und dann sehr laut wird

Und dann ging es plötzlich los. Erst mit Zahlen und Buchstaben, dann Farben und Tierlaute. Später kam Echolalie hinzu: viele Bobo Siebenschläfer- und Lightning McQueen-Zitate. Am liebsten schnappte Jim auf, wenn Ollie und ich aus Leibeskräften fluchten. Und als Jim verstand, dass er mit Sprache viel schneller bei uns ans Ziel kam als durch Gestik (weil wir es schneller verstanden), gab es kein Halten mehr. Ich schäme mich fast ein wenig dafür: an manchen Tagen wünsche ich mir, er wäre einfach mal fünf Minuten still. Nur liebgemeinte fünf Minuten. Damit meine Ohren mal eine Pause bekommen.

Jim redet ununterbrochen. Andauernd. Quasi rund um die Uhr. Nicht immer dient es der Kommunikation. Oft ist es einfach Selbstregulation. Das weiß ich aber nicht gleich. Also höre ich immer zu. Denn manchmal ist es ja auch an mich gerichtet. Es ist ein unentwegtes Mischmasch aus Mama-wo-bist-du, Mama-ist-Bob-ein-Hund-und-wo-ist-Papa und Mama-kannst du-bitte-Apfel-schneitz oder ABCDEFGHIJKLMONPQRSTUVWXYZ. Ich darf keinesfalls die Apfelbitte verpassen. An manchen Tagen macht mich diese Geräuschkulisse fertig. Wenn ich kurz davor bin, einmal laut „kannst du jetzt BITTE nur mal für fünf Minuten den Mund halten!“ durch das Wohnzimmer zu brüllen, fällt mir wieder ein, dass es Zeiten gab, in denen ich mir nichts sehnlicher gewünscht hätte als Jim beim Plaudern zuzuhören. Careful what you wish for.   

Was mich fordert

Jim kuschelt mit BobAls ich mir wünschte, dass Jim genauso ein Faible für Sprachen entwicklen würde wie ich, hatte ich nicht auf dem Schirm, dass er mal tagein tagaus sechs Sprachen vor sich hin murmeln würde. Jetzt lerne ich also das Alphabet mit ihm (oder eher er mit mir) in diversen Sprachen und Schriften. Mein Gehirn ist kurz vor der Kernschmelze. Als Erwachsene lernt es sich einfach nicht mehr so leicht. Meine Tage gliedern sich in a wie aufstehen bis z wie Zähne putzen.

Und als ich mir wünschte, dass Jim niemals aufhören würde, kuscheln zu wollen, hatte ich nicht auf dem Schirm, dass es mal Tage geben würde, an denen er rund um die Uhr Körperkontakt braucht. Tage, an denen er so ununterbrochen an mir dran ist, dass ich es kaum aushalten kann, weil es für mich nichtmal für ein paar Sekunden ein Entkommen gibt. Careful what you wish for.

Es kommt eh, wie es kommt

Bevor ich jetzt empörte Nachrichten bekomme, dass ich froh sein soll, dass mein Sohn überhaupt spricht, dass der sich überhaupt anfassen lässt und dass er ein so bewegungsfrohes Kind ist: da ich nicht weiß, wie es anders wäre heute, bin ich nicht mehr oder weniger froh, sondern nehme es so, wie es ist. An manchen Tagen kann ich mich unglaublich darüber freuen. An anderen Tagen ist es sehr, sehr anstrengend. Was die Sprache betrifft, ist vielleicht auch wichtig zu erwähnen, dass das Sprechen nicht immer Kommunikation zum Zweck hat. Natürlich ist es toll, dass Jim mir antworten und auch was erzählen kann. Oft quasselt er auch einfach nur so vor sich hin. Nicht immer möchte er in Verbindung gehen mit uns dabei. Hauptsache irgendein Geräusch.

Tut mir den Gefallen und nehmt diesen Beitrag auch ein wenig mit Humor. Eltern von nonverbalen Kindern dürfen sich wünschen, dass ihre Kinder sprechen. Und Eltern von sprechenden Kindern dürfen sich wünschen, dass ihre Kinder einfach mal für ein paar Minuten den Schnabel halten. Das ist nicht verwerflich. Das ist menschlich. Und Eltern dürfen ruhig auch mal über sich selbst lachen und ihrem Vergangenheits-Ich ein schadenfrohes „careful what you wish for“ zuflüstern. Es kommt eh, wie es kommt.