Bullshit-Bingo

Bullshit-Bingo

27/01/2022 10 Von Marison

Kommt, wir spielen ein Spiel! Eine Runde Bullshit-Bingo. Für diejenigen, die andauernd diese Sätze und Fragen hören. Und auch für diejenigen, die sie vielleicht selbst schon gesagt haben. Letzteren sei vorweg noch gesagt: es geht nicht darum, euch hier vorzuführen. Sondern darum, euch zum Nach- und Umdenken anzuregen. Diese Liste ist sicher bei weitem nicht vollständig. Sie ist lediglich eine Ansammlung meiner Favoriten. Eine Frage lasse ich bewusst weg, nämlich die Frage nach dem Impfen. Die ist so dermaßen abgelutscht und dumm, dass ich ihr hier keinen weiteren Platz einräume. Let’s bingo!

Er sieht gar nicht autistisch aus?!

Der absolute Klassiker! Ob es überhaupt Autist*innen oder deren Eltern gibt, die diesen Satz noch nie gehört haben? Ich bezweifle es. Ja, Herzblatt, ich weiß jetzt auch nicht, wie ich das ändern kann. Wie genau sieht denn ein*e Autist*in aus? 

Ist er denn sonst gesund?

Och menno, zum elfundneunzigtausendsten Mal – und jetzt bitte alle: AUTISMUS. IST. KEINE. KRANKHEIT. Und der Rest geht dich nix an?!  

Jim SpaziergangIst aber nur ein bißchen Autismus bei ihm, oder? Nicht so typisch autistisch.

Wunderbar, vielen Dank für die Frage. Da können wir gleich mal mit dem Märchen von den „leicht autistischen Zügen“ aufräumen. Das wird nämlich gern gesagt, um Eltern zu beruhigen, wenn sie zum ersten Mal mit dem Verdacht konfrontiert sind. Man hat keine autistischen Züge. Man ist Autist*in oder nicht. Man hat auch nicht ein bißchen Autismus oder ganz viel. Und selbst wenn: es ändert doch nichts an der Tatsache. Nicht ohne Grund wurde die Einteilung in „high functioning“ und „low functioning“ aufgehoben. Und was verstehen die Fragenden under „typisch autistisch“? Lasst mich raten: ein nonverbales, händeflatterndes Physik-Genie mit fotografischem Gedächtnis, das immer allein in der Ecke sitzt? Boy, do I got news for you! 

Wird er mal richtig sprechen können? Also „so richtig“???

Püppi, was du doch eigentlich fragen willst: wird Jim mal so sprechen, dass es nicht auffällt und dass man mit ihm eine gesellige Unterhaltung führen kann? Keine Ahnung! Woher soll ich das denn auch wissen? Wer soll mir das sagen können? Fakt ist: er hat eine Menge zu erzählen. Die Realität ist, dass ich nicht immer verstehe, was er mir erzählt. Oder eben auf andere Weise mitteilt. Damit das in unserem Inner Circle funktioniert, kommen wir uns entgegen: ich lerne mit Jim seine Form der Kommunikation zu verstehen. Und er lernt, sich manchmal auf meine Weise mitzuteilen. In der Regel funktioniert das auch gut. Ich stelle also eine Gegenfrage: werdet ihr Jim mal richtig verstehen können? Also „so richtig“?

Wie du das schaffst! Ich könnte das ja nicht.

Du denkst also, dass unser Leben schlimm/hart/schwer/mühsam/younameit sei. Dass man das nur wuppen kann, wenn man besonders tough/stark/ausdauernd/mutig ist. Das denke ich im Gegenzug übrigens auch ganz oft über Eltern, die jedes Wochenende auf irgendeinem Fussballplatz stehen und nach dem Match selbstgebackenen Kuchen für die Vereinskasse verticken müssen. Aber mal im Ernst, ich verrate dir was: du könntest das auch. So wie ich mir wohl auch die Beine am Fußballplatz in den Bauch stehen (rw) könnte. Übrigens: wir „schaffen“ gar nichts. Wir leben das Leben.  

Er ist hübsch, das wird ihm wenigstens helfen im Leben.

Ich… ähm… urgs… ich lass das mal so stehen. 

Vielleicht solltet ihr konsequenter sein, es ihm halt nicht immer recht machen!?

Danke für den heißen Tipp *augenrollen*! Wir machen es Jim nicht „recht“. Sondern sorgen – wie wohl die meisten Eltern – dafür, dass Jim eine möglichst unbeschwerte Kindheit hat. Und dass er nicht andauernd Situationen ausgesetzt ist, mit denen er nicht umgehen kann. Würdet ihr eure neurotypischen Kinder andauernd in Situationen werfen, von denen ihr wisst, dass sie unglaublich aufwühlend und schwer bis gar nicht auszuhalten sind? Macht ihr es ihnen dann „recht“ oder schützt ihr sie?    

Ahja, jetzt merkt man, dass er in seiner eigenen Welt ist.

Vielleicht hat er einfach gerade keine Lust? Auch so ein Klassiker, dass alle denken, Autist*innen wären alle immer in ihrer „eigenen Welt“, weil sie mal nicht das tun, was gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. Spielt Jim Mario Kart, dann ist er oft so konzentriert, dass er nicht reagiert, wenn ich ihn anspreche. Da ist er aber nicht in einer „eigenen Welt“, sondern setzt seine Ressourcen einfach woanders ein. Steht ihr nach einem langen Arbeitstag immer sofort parat, wenn ihr gerufen werdet, obwohl ihr es euch gerade mit einem Buch oder einer Serie bequem gemacht habt?

Naja, er ist ja nicht behindert oder so.

Oh weh, fällt es Dir schwer, das Wort „behindert“ zu sagen? Glaubst du, dass es eine Beleidigung ist? Dann ist doch genau da das eigentliche Problem: bei dir und deinem Schamgefühl. Doch, Autismus ist eine Behinderung. Und es ist wichtig, dass das auch benannt wird.  

So, wer hat nun alle neun Aussagen abhaken können? Wahrscheinlich die meisten. Irgendwann möchte ich statt Bullshit-Bingo mal Decency-Bingo spielen können. Denn es gibt ja auch ganz tolle Fragen. Vielleicht kann die Liste der guten Fragen irgendwann mal länger werden als die Bullshit-Liste. Es wäre schön. Hier der Anfang:

Sollen wir etwas beachten?

Tatsächlich bin ich vor ein paar Tagen von einer lieben Freundin vor einem Playdate mit ihren Kindern gefragt worden, ob es etwas gibt, was beachtet werden soll, damit Jim sich wohlfühlen kann. Laute Geräusche vermeiden oder bestimmte Snacks im Haus haben zum Beispiel. Beides ist für Jim nicht so wichtig (obwohl er bei Schokokeksen nie nein sagt!), aber ich fand es unglaublich beruhigend, dass sich jemand da Gedanken macht.

Jim BrezelJim, möchtest du…?

Meine Lieblingsfrage. Wer mit Jim in Kontakt treten möchte, kann ihn einfach fragen. Vieles versteht er gut und kann entsprechend antworten. Was er nicht gleich versteht, schaut er sich erstmal in Ruhe an und entscheidet dann, ob er mitmacht oder nicht. Er mag vielleicht nicht antworten, wie es für neurotypische Menschen gewohnt ist, aber wer sich ein bißchen Mühe gibt und aufmerksam ist, wird die Antwort verstehen. Jim ist ein eigenständiger Mensch, er darf seine eigenen Entscheidungen fällen. Also, fragt ihn ruhig.

Wie geht es Dir?

Wahrscheinlich werde ich sagen: „eh gut!“. Manchmal vielleicht auch: „ich bin total platt, aber geht schon. Muss ja…!“ Trotzdem schätze ich die Frage sehr, wenn sie ernstgemeint ist. Denn zwischen all dem Orga-Kram und Job und Haushalt und Jims Routinen und und und, vergesse ich oft, mich das selbst zu fragen.

Wie es mir geht? Danke, eh gut. Ich bin platt, aber geht schon. Muss ja!