Besonders (und) fröhlich?

Besonders (und) fröhlich?

04/03/2021 1 Von Marison

Jim hat von anderen Menschen zwei Labels aufgedrückt bekommen: er sei eben ein besonderes Kind und vor allem immer so fröhlich. Klar, es könnte schlimmer sein. Und im Grunde ist es als Kompliment gemeint, bestätigend für uns Eltern, dass wir das gut machen. Aber auch eine Menge Glück haben, dass Jim so ein „einfaches“ Kind ist. Besonders und fröhlich – diese zwei Etiketten kleben auf seiner Stirn.

Wer in meinem Inner Circle das schonmal gesagt hat, muss sich jetzt nicht schlecht fühlen. Wie gesagt, es war ja immer lieb und aufmunternd gemeint, das weiß ich. Und ganz falsch ist es ja auch nicht, denn natürlich ist Jim für uns Eltern besonders. Und meistens zeigt er sich auch von seiner fröhlichen Seite, wenn wir anderen Menschen begegnen. Ich kann es also niemandem verübeln. Trotzdem: nur weil etwas lieb gemeint ist, ist es nicht immer richtig. Ich will nicht übersensibel werden und jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ich möchte allerdings Anstoß geben, um diese Floskeln zu überdenken.

Was ist das Problem mit „besonders“?

Ich weiß nicht, wann es passiert ist, dass der Begriff „besondere Kinder“ salonfähig wurde. Gemeint sind damit Kinder mit einer Behinderung. In Jims Fall eben eine Autismusspektrumstörung. Diese Diagnose macht ihn anscheinend zu einem besonderen Kind. 

Wenn Kinder wie Jim nun besondere Kinder sind, was sind dann Kinder ohne Behinderung? Einfach Kinder? Genau! Wem hilft der Zusatz „besonders“ denn tatsächlich? Wohl denjenigen, die das Wort Behinderung nicht aussprechen können, ohne sich vor lauter Scham die Hand vor den Mund zu halten. Deshalb umschreibt man es mit einem augenscheinlich freundlicheren Wort. Nun, befasst man sich mit der Herkunft des Worts, stellt man schnell fest, dass es nicht zwingend eine freundliche Bedeutung hat. Es bedeutet nämlich u.a.: eigentümlich und abgesondert. Und genau das soll doch gerade nicht sein?! Absonderung ist nämlich das, was passiert, wenn wir Kinder in vermeintlich normale und besondere Kinder aufteilen. Eine Gruppe ist dabei die Randgruppe. Ratet mal welche!

Nehme ich die positiven Bedeutungen von „besonders“ her, dann habe ich es zu tun mit: nicht allgemein und ausgezeichnet. Das trifft auf meine Empfindung zu Jim auf jeden Fall zu. Natürlich ist er für MICH besonders. Er ist mein Sohn. Jim ist für mich etwas ganz besonderes im positiven Sinn. Wäre ja auch irgendwie traurig, wenn es nicht so wäre. Es ist aber kein Label, das man ihm allgemeingültig aufdrücken kann, sondern beschreibt unser Innenverhältnis. In diesem Fall ist der Begriff also uns als Familie vorbehalten (wobei ich die weitere Familie da einschließe).

BuchstabenAuch Jims ausgeprägtes Interesse an Zahlen und Buchstaben macht ihn nicht besonders. Es ist einfach sein Spezialinteresse bzw. Talent. Andere Kinder können mit drei Jahren Fahrrad fahren oder schwimmen (davon ist Jim noch sehr weit entfernt), haben es aber nicht so mit dem Zählen. Talente gelten aber anscheinend nur für neurotypische Menschen. Bei Autisten ist es – laut Gesellschaft – immer der Autismus, der sie „so besonders“ macht. Weil neurotypische Menschen das nämlich nur schwer in ihren Kopf bekommen, dass Autismus nicht immer mit Hochbegabung einhergeht. Nicht jeder Autist ist Savant, nicht jedes Spezialinteresse eine Inselbegabung. Ich zum Beispiel (neurotypisch) hatte es immer leicht mit Sprachen und Musik, aber alles Naturwissenschaftliche war die reine Katastrophe. Das Periodensystem war, ist und bleibt ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Mein Talent ist eben woanders. Wäre nun Jim an meiner Stelle, würde man uns wahrscheinlich raten, ihn 60 Stunden in der Woche in ein Konservatorium zu stecken, „damit aus dem musikalischen Wunderkind ein ganz Großer wird!“. Urgh, stöhn, seufz.

Gute Laune hat einen Preis

Natürlich sehen die meisten Menschen die entspannte und fröhliche Seite von Jim. Das ist ja auch das, was wir mit Freunden, Bekannten, Familie und Verwandten teilen. Alle wollen gern das breite Lachen sehen, ein gut gelauntes Kind, das über die Wiese tollt. Die Kackmomente, die schwierigen Zeiten, die Anstrengung, die will eigentlich niemand wirklich sehen (verständlich!). Und die wollen wir auch selten teilen (verständlich?), oder zumindest nur in einem kleinen, sicheren Kreis. Jim grüßt alle überschwänglich auf der Straße, im Supermarkt, im Bus, überall. Er lacht und freut sich und spielt und tobt. Das macht er, solange wir seinen Regeln folgen. Solange wir uns an die Routine halten. An den immer gleichen Ablauf, ohne die geringste Abweichung. Denn die setzt einen Wirbelsturm frei, der einen kalt erwischt und nicht mehr genügend Zeit bleibt, um sich einen sicheren Ort zu suchen.

Wir versuchen, so gut es eben geht, Jims Bedürfnisse und unseren Tagesablauf miteinander zu vereinen. Nicht immer kann alles 100% gleich ablaufen, nicht immer können wir Rücksicht darauf nehmen, dass Jim morgens eineinhalb Stunden braucht, um sein Programm zu absolvieren, bevor wir in den Kindergarten gehen. Manchmal muss es schneller gehen. Oder Therapietermine haben sich verschoben. Oder, hey, ich bin auch nur ein Mensch, ich kann einfach nicht seit über einem Jahr das gleiche Buch jeden Morgen vorlesen. Gerade an Tagen, an denen wir es eilig haben, beißt sich die Katze in den Schwanz: lenke ich ein und spule mit ihm das Programm ab, kommen wir zu spät. Mache ich mein Tempo, streikt Jim, ist überfordert, lässt nichts zu. Und wir kommen zu spät. Ihr denkt jetzt bestimm: „Dann steht halt einfach früher auf und fangt mit dem Programm entsprechend früher an?“ – No shit, Sherlock! Aber: kennt ihr den Grundsatz „never wake a sleeping baby“? Der gilt auch für den ein oder anderen Vierjährigen noch. Außerdem, wer mich kennt, weiß, dass früh aufstehen nicht unbedingt meine Kernkompetenz ist. Dieser Lösungsansatz funktioniert also für niemanden hier. Sorry.

FröhlichGrundsätzlich ist Jim ein gut gelauntes Kind, wir haben viele lustige und fröhliche Momente mit ihm. Und gerade weil wir diese Momente mit anderen teilen, wirkt es so, als sei Jim einfach allzeit happy-chappy. Und deshalb denken viele eben auch, dass wir – na so ein Glück – einen „leichten Fall“ zuhause haben. Das kann ich zu Teilen sogar nachvollziehen. Trotzdem sorgt es auch dafür, dass ich ständig das Gefühl habe, mich rechtfertigen zu müssen. Wenn mir mal alles zu viel wird, wenn Jim mal keinen guten Tag hat, wenn meine Zündschnur kurz ist wegen der andauernden Quengelei. Und ich fühle mich, als hätte ich eigentlich kein Recht dazu, denn: „er ist doch so ein fröhliches Kind!“. Ist er ja auch oft, aber wenn die Post abgeht, dann ziehen sich besser alle mal warm an.

Long story short

Jim ist nicht mehr oder weniger besonders als andere Kinder. Er braucht in manchen Dingen mehr Unterstützung als andere, in anderen Dingen hingegen weniger. Er ist ein Kind, dessen Entwicklung nicht strikt nach einem Entwicklungsplan läuft. Trotzdem ist er einfach ein Kind. Jim ist oft gut gelaunt, aber manchmal eben auch einfach nicht. Veränderungen machen ihm Stress. Das versuchen wir, so gut wie es geht, zu vermeiden, wenn wir andere Leute treffen. Denn Publikum bei einem Meltdown macht die Sache oft schlimmer. Wenn ihr Jim nur als fröhlichen, easy Jungen kennt, dann deshalb, weil wir davor viel Vorbereitungsarbeit geleistet haben und versuchen, die Situation so unkompliziert und reizfrei wie möglich für ihn zu gestalten. Was für andere besonders und fröhlich scheint, ist für uns also oft (nicht immer!) anstrengend und vorbereitungsintensiv. Nicht alles ist immer locker-flockig, nur weil es auf den ersten Blick so wirkt. #foodforthought