Angstgegner Spielplatz
Kinder müssen raus. Sie wollen toben, rennen, sich schmutzig machen, klettern, rutschen, schaukeln. Da geht es wohl fast allen Eltern gleich: ab auf den Spielplatz mit den Kids. Schließlich trifft man dort ja auch immer jemanden, kann einen kurzen Plausch halten, während die Kinder überschüssige Energie loswerden. Win-win, zumindest theoretisch.
Wirklich heiß auf den Spielplatz ist wohl niemand, aber wenn man keinen eigenen Garten hat und in einer Stadtwohnung lebt, dann sind Klettergerüst und Rutsche eine willkommene Abwechslung für Kinder. Das Gefahrenpotenzial ist auch übersichtlich, schließlich sind die meisten Spielplätze gut eingezäunt. Also, Kekse, Wasser und Ball eingepackt, los geht’s!
Auf dem Spielplatz wuseln Kinder durcheinander, Eltern stehen in Grüppchen zusammen und tratschen, oder haben es sich auf sorgsam ausgebreiteten Picknickdecken gemütlich gemacht und soviel Proviant ausgepackt, dass man damit die halbe Stadt versorgen könnte. Engagierte Mütter sitzen mit ihren Kindern im Sandkasten und bejubeln den matschigen Sandkuchen, Väter spielen ehrgeizig Fußball mit den Sprösslingen, die gerade erst laufen gelernt haben. Aber früh übt sich…
Mission Kontaktaufnahme
Jim läuft mal drauf los. Und ich schaue mich um, ob ich vielleicht doch das ein oder andere bekannte Gesicht entdecke. Fehlanzeige. Gut, dann versuche ich einfach, mich unter das Elternvolk zu mischen, trotte langsam los, setze mein Muttilächeln auf und grüße in die Runde. In der Zwischenzeit hat Jim sich auf den Weg zur Sandkiste gemacht. Da steht er jetzt, mäßig motiviert, nimmt mal eine Schaufel in die Hand, lässt sie wieder fallen und schaut ins Nirgendwo. So richtig weiß er mit dem Sand, der Schaufel und all den Förmchen nichts anzufangen. Okay, dann muss ich wenigstens nicht “hhmmm lecker!!!” jauchzen. Eine Gruppe Kinder rast auf Rollern an ihm vorbei, er nimmt die Verfolgung auf. Die Kinder bemerken ihn und sprechen ihn an. Da ist er der Moment, der immer passiert: Jim steht und schaut und steht und schaut und steht und schaut. Aber er sagt nichts. Er kann auf die Fragen der Kinder nicht antworten, er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Schnell verlieren die anderen Kinder das Interesse und machen weiter ihr Ding, dann halt eben ohne Jim. Am Anfang gingen mir diese Momente immer sehr nah. Jim versucht auf seine Art Kontakt aufzunehmen, aber da kein Dialog stattfindet, bleibt es eben meistens bei seinem Versuch.
Aus diesen Momenten habe ich auch gelernt: Eltern kommen dann miteinander in Kontakt, wenn die Kinder in Kontakt sind. Oder wenn die Kinder – neugierig wie sie sind – die Erwachsenen ansprechen. Jim kommt mit anderen Kindern schwer in Kontakt. Andere Erwachsene spricht er nicht an. Und wenn jemand ihn anspricht, antwortet er nicht. Er hat keine Spielplatzfreunde, wir haben keine “Play Dates”, die die Kids im Kindergarten ausmachen. Oder zumindest weiß ich davon nichts, denn er kann es mir nicht erzählen. Und so wandere ich auf dem Spielplatz umher und gebe mir Mühe, das Muttilächeln aufrecht zu erhalten, auch wenn mir eigentlich zum Heulen ist. Ich bestaune die Matschburg eines kleinen Mädchens, die Mutter schaut auf und wendet sich gleich wieder der Matschburg zu. Die einzige andere Mutter, die sich keiner Gruppe angeschlossen hat, telefoniert. Es sei ihr gegönnt. Wahrscheinlich sind die Spielplatzstunden ihre einzige Möglichkeit, mal in Ruhe mit Familie oder Freunden zu sprechen.
Alle amüsieren sich auf der Theaterbühne
An manchen Tagen beneide ich die Grüppchen, wie sie da stehen und sitzen, lachen und tratschen, sich mal wieder eine Pizza in den Park liefern lassen. Jemand hat auch einen Prosecco dabei. Na dann Prost. Ich setze mich auf die Bank und fühle mich wie in einem Theater: auf der Bühne geht die Post ab, aber im Publikum sitze nur ich. Naja, und Jim, aber der ist damit beschäftigt, mir jede einzelne Pusteblume zu bringen, bis er keine mehr finden kann.
Ich werde heute wohl keine Spielplatzfreundschaft mehr schließen. Und auch kein Treffen für den nächsten Tag, für nächste Woche und überhaupt jede Woche in diesem Jahr ausmachen. Und so versinke ich in meinen Gedanken und muss fast ein wenig darüber lachen, wie einsam ein Spielplatz machen kann. Bis eine entrüstete Mutter mich am Ärmel zieht und wild in Richtung Rutsche gestikuliert. Da sitzt Jim, ganz oben. Hinter ihm ein langer Kinder-Stau. Alle wollen rutschen, aber einer sitzt halt im Weg. Er sitzt und genießt die Aussicht. Und ein bißchen scheint er auch zu genießen, dass ihn plötzlich alle wahrnehmen. Die entrüstete Mutter entrüstet sich immer mehr und trägt mir auf, Jim da wegzuholen, die Rutsche sei schließlich zum Rutschen da und nicht zum Rumsitzen. Andere Eltern nicken ihr zustimmend zu. Also hole ich Jim von seinem Ausguck, wir machen uns langsam wieder auf den Weg nach Hause, die noch immer zeternde Mutter im Rücken. Wir sind wieder die Sonderlinge, die nicht dazugehören.
Wie jedes Mal denke ich auch heute: nie wieder Spielplatz! Und morgen werden wir es trotzdem wieder versuchen. Auch wenn es mir Mut abfordert. Anders sein macht manchmal Angst.
Oh, ist das berührend! ❤️
❤️
Hallo Marison,
Gerade eben dein Blog gefunden und jetzt diesen Text gelesen🥲. Mein Kleiner ist 3 jahre und jetzt in Abklärung und wenn ich all dies so lese, fühle ich es so sehr. Du beschreibst es so gut und ich finde mich und mein Sohn wieder. Du berührst unendlich. Und gibst Kraft, für die nächaten Schritte. Freue mich noh die anderen Beiträge zu lesen❤🙏
Liebe Alexandra,
bei uns ging die Diagnostik auch in dem Alter los. Ich weiß, dass das eine anstrengende und sehr fordernde Zeit ist. Deshalb: versuch locker zu bleiben und die Dinge so zu nehmen wie sie kommen. Alles wird gut. Und falls Du Fragen hast, meld Dich gern jederzeit per E-Mail.
Mir hat geholfen, dass jemand damals zu mir gesagt hat: „egal, was rauskommt, Jim ist nach der Diagnose der gleiche tolle Junge, der er vorher auch war.“ Die Person hat Recht behalten.
Alles Gute euch! <3