Alles nur eine Phase
Die Diagnose des eigenen Kindes bringt verschiedene Phasen mit sich, die Eltern durchlaufen. Was ich von anderen Eltern autistischer Kinder höre, erleben wir ähnliches, wenn auch bestimmt unterschiedlich stark ausgeprägt und in individueller Reihenfolge. Ich befinde mich gerade in meiner Phase 5. Ob danach noch Phasen folgen, weiß ich nicht, aber Phase 5 fühlt sich gerade ganz gut an.
Phase 1: Die Sorge
Der Einstieg. Er erfolgt schon vor einer offiziellen Diagnose und ist geprägt von Unsicherheit und Sorge. Es war die Zeit, in der ich merkte, dass Jims Entwicklung ein anderes Tempo und auch eine andere Richtung hatte als die Entwicklung der anderen Kinder, die wir so kannten. Viele Ärzte und Fachleute haben mit Begriffen um sich geworfen, die mich erstmal nicht entspannt haben. Vielleicht ist das Kind taub. Wir wollen einen Hirntumor ausschließen. Vielleicht Epilepsie. Manche Jungs sind eben Spätzünder. Machen Sie sich keine Sorgen. Hahaha, netter Versuch.
Nach jedem Arztbesuch saß ich heulend im Auto, weil wieder irgendein neuer Verdacht auf dem Tisch lag. Und gleichzeitig fühlte sich der Verdacht immer falsch an. Ich habe gezweifelt an mir selbst. Jeden Laut, den Jim von sich gegeben hat, jede Bewegung, die er getan hat – alles habe ich interpretiert, hinterfragt, genauestens beobachtet. Es war anstrengend.
Phase 2: Die Trauer
Mit der Diagnose stellte sich unmittelbar Erleichterung ein. Ziemlich zackig gefolgt von Trauer. Ich glaube, das ist auch ziemlich normal. Erleichterung, weil wir endlich wussten, was Sache ist. Und dann plötzlich Trauer, weil man sich von einem Lebensmodell verabschiedet, das man lange Zeit als das einzig Existierende im Kopf hatte. Ich habe unendlich viel gelesen in der Zeit. Gefühlt einmal das ganze Internet durch. Alles, was ich über Autismus finden konnte. Und es hat mich traurig gemacht. Fast alles sprach nur von Defiziten. Ihr Kind wird nie… Eigenständiges Leben nur in Ausnahmefällen… Aufopferung… Pflege… es klang alles überwältigend schwierig. So hatte ich mir mein Leben doch nicht vorgestellt?!
In der Zeit habe ich viel mit mir gerungen. Habe ich etwas falsch gemacht? Wie kann ich Jim gerecht werden? Ich habe oft neidvoll auf dem Spielplatz die anderen Familien betrachtet, bei denen alles so einfach erschien. Und ja, ich weiß, auch in rein neurotypischen Familien ist nicht alles einfach. Aber es wirkte eben nach außen so. Ich fühlte mich unglaublich allein. Und so unfassbar verantwortlich. Phase 1 mag anstrengend gewesen sein, aber Phase 2 hat mental sehr viel Kraft gekostet. Bis sie genauso plötzlich vorbei war, wie sie gekommen war.
Phase 3: Die Aktion
Ich erinnere mich gut, dass ich eines Tages auf einem amerikanischen Blog den Slogan „Shatter the Nevers“ gelesen habe. Das hat etwas bei mir ausgelöst. Das war genau das, was ich brauchte. Ich wollte mich mit dem „Ihr Kind wird nie…“ partout nicht abfinden. Ich wollte beweisen, dass das Leben mit einem autistischen Kind nicht zwangsweise diesen Ausgang haben muss. Statt „Ihr Kind wird nie…“ eben „Ihr Kind kann…“. Rückblickend – und ziemlich selbstkritisch – kann ich heute sagen: es war vielleicht der unterbewusste Wunsch, Jim möglichst neurotypisch erscheinen zu lassen. Ich habe mich niemals geschämt, darum ging es mir nicht. Ich war nur überzeugt davon, dass es für Jim schlicht vorteilhaft wäre, wenn er möglich angepasst an die überwiegend neurotypische Gesellschaft sei. Das würde ihm weniger Schwierigkeiten machen später, er würde es leichter haben.
Ich mache mir keinen Vorwurf. Letztlich wollte ich immer nur das Beste für ihn. Aber gut gemeint ist eben nicht immer gut. Wir haben verschiedene Dinge ausprobiert. Und das meiste auch wieder sein lassen, weil es nicht sinnvoll erschien oder Jim nicht zusagte. Das ist wirklich toll bei Jim: er lässt uns unmittelbar wissen, ob er an etwas Spaß hat oder nicht. Wir müssen nicht Rätsel raten. Irgendwann war ich ausgepowert. Jim auch. Ich hatte uns zuviel zugemutet. Also mal einen Gang runterschalten (rw). Erwartungen und Sinnhaftigkeit hinterfragen. Das berühmte Innehalten. Immer nur nach vorne preschen ist nicht gesund, wenn man die Richtung nicht kennt.
Phase 4: Die Aufklärung
Ich nutze gern das Bild vom offenen Meer, wenn ich über den Weg mit Jim spreche. Unser Leben fühlt sich manchmal so an, als wären wir alle ins Wasser geworfen worden. Jim schwimmt in eine Richtung, deren Ziel wir nicht erkennen können. Und wir schwimmen hinterher. Nirgendwo ist ein Ufer in Sicht. Aber Jim schwimmt so zielstrebig, das wir ihm folgen, auch wenn wir nicht wissen wohin. Neben diesem Bild sind in den letzten Monaten noch viele mehr hinzugekommen, z. B. der Roadtrip ohne Navi. Diese Bilder zeigen eins ganz deutlich: es gibt eigentlich kein Ziel. Was soll es denn auch sein?
Die Energie, die ich aufgebracht habe, um den Niemals-Sagern das Gegenteil zu beweisen, habe ich in Phase 4 anders genutzt. Es war die Aufklärungsphase. In dieser Zeit habe ich – endlich! – angefangen, auch von erwachsenen Autist*innen zu lesen. Ihren Rat und ihre Empfehlungen angenommen. Und ich habe in unserem Umfeld andauernde Aufklärung betrieben, wo sie nötig war. Ich war erstaunt, wieviele Mythen sich um das Thema Autismus ranken. Ich wollte, dass Jim verstanden wird. Also habe ich wie ein übergroßer Zuckerstreuer Autismus-Awareness über alles und jede*n gestreut, der*die es hören wollte (oder eben auch nicht). Es hat sich richtig angefühlt. Und tut es oft auch immer noch, sonst gäbe es diesen Blog nicht mehr.
Phase 5: Das ganz normale Leben
Und dann war Phase 5 schlagartig da. Es ist die Phase, in der ich mich gerade befinde. Das ganz normale Leben. Die Phase, in der wir Jims Entwicklung mit großer Bewunderung für ihn betrachtet. Ihn sein lassen. Sein Stimming das Grundrauschen unseres Alltags geworden ist. Ich habe nicht mehr das dringende Bedürfnis „aktiv“ zu sein oder andauernd und überall Aufklärung zu betreiben. Es gibt keine besondere Erwartung an Jim. Wir unterstützen, was ihm Spaß macht. Ich weiß nicht, ob es an unserer Entspannung liegt oder ob es eben der Lauf der Dinge ist, aber: seitdem ich meinen Aktionismus runtergeschraubt habe, kehrt tatsächlich sowas wie Normalität bei uns ein.
Wir haben gelernt, was Jim unter Stress setzt. Und auch, was ihm gut tut. Wir haben ihm zugehört, wenn er uns mitgeteilt hat, was er braucht und mag. Und auch, was ihm nicht gefällt. Wir kapseln uns nicht mehr ab und versuchen gleichzeitig auch nicht „dazu zu gehören“. Wir machen einfach unser Ding.
Ich hatte ganz sicher unterschätzt, dass es eben eine Weile dauert, bis man die Diagnose verarbeitet, seinen Frieden damit schließt. Wer mich kurz nach der Diagnose dazu gefragt hätte, hätte die Antwort erhalten, dass es mir eh okay geht damit. Meine Phasen waren meine Bewältigungsstrategie, auch wenn ich das so nie zugegeben (oder überhaupt erkannt) hätte. Heute kann ich sagen: mir geht es gut. Uns. Es ist eben alles nur eine Phase.