Alles klar – Über das Verlangen nach Kontrolle

Alles klar – Über das Verlangen nach Kontrolle

26/05/2021 0 Von Marison

Ich bin nicht so der „Scheiß drauf, einfach machen!“-Typ. Ich finde Checklisten super und habe gern den Überblick. Bevor ich etwas anfange, überlege ich erst, wie ich es genau angehe, was alles schiefgehen könnte und welche Möglichkeiten ich dann hätte. Ich will vorbereitet sein. Egal was kommt. Meine Tage plane ich im Kopf durch. Das gibt mir ein Gefühl von Kontrolle. Solange ich in control bin, fühl ich mich sicher. Vorbereitung ist für mich das halbe Leben. Ich will gewappnet sein für alle Fälle. Das ist wie ein innerer Notfall-Kit. Wenn der gepackt ist, dann ist: Alles klar!

Hauptsache in control

Jim RollerTermine sind mir heilig. Ich möchte nicht, dass jemand auf mich warten muss. Ollie verdreht gern die Augen, weil ich vorher schon ganz genau wissen möchte, wann wir los müssen, um nicht zu spät zu kommen, und weil ich sicher mindestens zehn Minuten vor der vereinbarten Abfahrtszeit bereit stehe. Passiv-aggressives Unter-Druck-Setzen. *schuldig* So bin ich halt. Bei uns bin jedenfalls nicht ich diejenige, auf die gewartet werden muss. Das gehört zu meiner Vorbereitung dazu. Und natürlich habe ich schon einen Plan, falls wir doch zu spät kommen. Hauptsache, ich bin in control. Alles klar!

Als Jim auf die Welt kam, hing ich an Entwicklungsplänen fest. Ich konnte es kaum abwarten: der erste Zahn, das erste Mal drehen, das erste Mal „Mama“. Und während ich auf alle diese Meilensteine wartete, hat Jim mir die größte Lektion erteilt: dass man eben nicht immer auf alles vorbereitet sein kann und muss. Sondern dass es manchmal einfach so kommt, wie es kommt. Und dass man nicht versagt hat, nur weil etwas anders eingetroffen ist, als man das im Kopf vorher so feinsäuberlich durchgeplant und vorbereitet hatte. 

Das Leben ist keine Checkliste

Ich war nicht auf ein Leben vorbereitet, dass von Kinderentwicklungsplänen abweicht. Ich war auch nicht darauf vorbereitet, dass Sprache mal ein Thema werden würde. Im Gegenteil: ich hatte alles im Kopf parat: der erste spannende Zoobesuch, das erste Mal Weihnachtsplätzchen backen. Ich war mir sicher, dass ich meinem Sohn Gute-Nacht-Geschichten vorlesen und er sich abends das Buch dafür aussuchen würde. Dass er es kaum erwarten könnte, mir zu erzählen, was er heute im Kindergarten erlebt hatte. Dass er mit mir durch die Pfützen springen würde. Jim hält mir den Spiegel vor. Manchmal ist es, als würde er sagen wollen: „leg mal deine Erwartungshaltung ab, Mama! Das Leben ist keine Checkliste, die man abhaken muss.“ Touché.

Murphy’s Law an einem Montag – wann sonst?

Am Montag war ein harter Tag, der Spuren hinterlassen hat. Jim und ich sind noch durch den Wind, um das mal freundlich auszudrücken. Denn zwischen ganz vielen superentspannten und fröhlichen Tagen, gibt es auch Ausreißer; Tage, an denen einfach gar nichts geht. An denen Murphy’s Law mit aller Macht zuschlägt und man in den Überlebensmodus schaltet, um den Tag irgendwie zu überstehen. Alles, was am Montag passiert ist, wirkt erstmal ganz harmlos, nicht der Rede wert. Der Tag war letztlich ein Reminder für mich, was passiert, wenn autistischen Kindern ihre Routine, ihre Sicherheit genommen wird. Am Montag waren wir ganz weit entfernt von „Alles klar!“.

Es war kein normaler Montag, sondern Feiertag. Ich mochte den Mai mit seinen Feiertagen noch nie. Als ich noch operativ in der Hotellerie gearbeitet habe, waren es die Tage, an denen alle anderen frei hatten, während ich um 6.30 Uhr zum Frühdienst antanzen musste. Als ich dann in den administrativen Bereich wechselte, wurden mir die Feiertage nicht sympathischer, weil die Arbeit nicht weniger war, man aber einen Tag weniger Zeit zum Erledigen hatte. Und heute bedeuten Feiertage, dass der Kindergarten geschlossen ist und Jim seinen normalen Ablauf nicht hat. Auf einmal ist das Wochenende nicht nur zweimal schlafen lang, sondern dreimal. Das allein reicht schon für einen unrunden Tag.

Parkplatz des Grauens

Um Jim vergessen zu lassen, dass zwar Monat aber kein Kindergarten ist, waren wir im Motorikpark. Die einzige Möglichkeit, ihn nach Stunden wieder zum Auto zu bekommen, ist: er darf das Parkticket am Automaten bezahlen. Münzen einwerfen, das Größte für Jim. Nur am Montag nicht, denn die Schranke war offen und wir konnten kein Parkticket ziehen. Entsprechend konnten wir auch keins bezahlen. Und wenn man kein Parkticket in den Automaten steckt, bleibt auch der Münzschlitz blockiert. Man kann also nichtmal Münzen einwerfen, die dann einfach durchfallen. Und das versteht Jim nicht. Denn schließlich darf er IMMER die Münzen einwerfen. Niemals hätte ich daran gedacht, mir einen inneren Notfall-Kit für eine solche Situation zurecht zu legen. Ich hatte schließlich anders geplant. Meine Tasche war voll mit Münzen für Jim. So saßen wir fest. Vor einer offenen Parkplatzschranke. Jim war außer sich. Und andere Eltern amüsierten sich über die Mutter, die ihr „bockiges Kind nicht im Griff“ hatte. Was sie wohl nicht wissen: wenn ein Kind nicht ansprechbar ist, kann man auch nicht „durchgreifen“. Versucht man das trotzdem, macht man es nur schlimmer. Aussitzen ist so ziemlich das einzige, was man tun kann. Das haben wir dann auch. Ich weiß nicht genau wie lange, aber es war eine gefühlte Ewigkeit. Damit war der Tag schon aus dem Gleichgewicht.

Vom Ausharren im Regen

Jim RegenNachmittags setzte der Regen ein. Jetzt hatte ich es also nicht nur mit einem Feiertag zu tun, an dem schon eine Ritualstörung stattgefunden hatte, es kam jetzt auch noch das Wetter dazu, das Jim aus der Fassung bringt. Aber irgendwann muss der Hund halt auch mal raus, ich kann ihn ja nicht platzen lassen. Also fuhren wir zum „sichersten“ Ort für einen Spaziergang: ein Wohngebiet, das Jim gut kennt, in dem keine Autos fahren und wo es keine Ablenkung in Form von Spielplätzen gibt. Nur eine schnelle Runde um den Block, maximal 30 Minuten. Regenschirm und Roller waren im Gepäck. Und bis zur Hälfte des Weges ging auch alles gut. Spoiler: ich habe am Montag gelernt, dass meine Regenjacke nicht zweieinhalb Stunden im strömenden Regen dicht hält. Jim blieb nämlich mit seinem Roller in einem klitzekleinen Schlagloch hängen und fiel hin. Nix passiert, alle Knie blieben heil. ABER: die Hose war nass. War sie vorher auch schon vom Regen, aber jetzt war sie eben RICHTIG nass. In diesem Moment habe ich etwas zu meiner inneren Vorbereitungsliste hinzugefügt: ab sofort IMMER Wechselkleidung mitnehmen, ganz egal was wir machen. 

Aufmerksame Anwohner und laute Hilfeschreie

Nichts ging mehr. Und ich meine wirklich: nichts! Jim schrie sich in einer Schleife fest und kam nicht mehr raus. Wäre es nicht so unangenehm, könnte ich über die Tatsache lachen, dass Jim seit Neuestem immer „Hilfe!“ schreit, wenn etwas ist. So stand er also über eine Stunde mitten in einem ruhigen Wohngebiet und brüllte aus Leibeskräften um Hilfe. Menschen kamen aus ihren Häusern, um nachzusehen, was das vor sich ging. Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich wäre wahrscheinlich auch mal schauen gegangen, wenn ein Kind vor meiner Haustür so lange um Hilfe ruft. Jetzt war ich also nicht nur damit beschäftigt, Jim zu beruhigen und den Hund bei Laune zu halten. Ich musste lauter besorgten Menschen auch erklären, dass Jim WIRKLICH mein Sohn ist und ich nicht weiß, warum er ausgerechnet „Hilfe!“ brüllt, dass er WIRKLICH nur hingefallen ist und dass man uns WIRKLICH nicht helfen kann. Ich weiß nicht, wie wir es zum Auto geschafft haben, aber irgendwann saßen wir drin. Völlig durchnässt. Erschöpft. Und sehr leer.

Ein Abenteuer mit ungefährem Fahrplan

Vorbereitung ist eben tatsächlich nur das halbe Leben. Nicht alles hält sich immer an einen Plan, nicht jede Checkliste, die abgehakt ist, war auch vollständig. Das Leben mit Jim ist ein Abenteuer, für das es nur einen ungefähren Fahrplan gibt. Auch wenn es auf den ersten Blick wie ein Leben voller Rituale und Routine aussieht, gut planbar und berechenbar. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles gut unter Kontrolle habe, bestens vorbereitet bin, egal was kommt. „Alles klar!“ Montag war ein Weckruf aus meinem Checklisten-Traum. Als hätte Jim mir sagen wollen: „leg mal deine Erwartungshaltung an dich selbst ab, Mama! Du musst das nicht immer im Griff haben, nur da sein.“ Alles klar, Jim, versprochen.