Alles ist möglich

Alles ist möglich

04/05/2023 4 Von Marison

Vor einigen Tagen hatte ich eine Unterhaltung mit einer Freundin, in der es um das Loslassen ging. Darum, dass wir uns ständig bemühen, unsere Kinder so gut es geht zu beschützen und sie vor Gefahren zu bewahren. Während des Gesprächs ist mir etwas bewusst geworden, was ich unbewusst mache: ich übe mich im Vertrauen. Ich will Jim vertrauen.

Von Straßen und Hügeln

Jim FahrradWenn wir morgens zum Kindergarten gehen, laufen wir ein gutes Stück eine stark befahrene Straße entlang, bevor wir in eine Seitenstraße einbiegen. Es ist das Schönste für Jim, diese Straße hinunter zu rennen, abzubiegen und mich dann – wenn ich auch einbiege – mit einem lauten „Kuckuck!“ zu erschrecken. Anfangs bin ich immer mitgerannt. Aber um ehrlich zu sein: morgens hab ich es einfach noch nicht so mit sportlicher Aktivität. Jim dazu zu bewegen, neben mir her zu schlendern, war ein Ding der Unmöglichkeit. Also habe ich tief durchgeatmet und darauf vertraut, dass er eh auf dem Gehweg bleibt und hinter der Straßenecke auf mich wartet. Das ist nun unser allmorgendliches Spiel geworden, auch wenn mir nie wirklich wohl dabei ist.

Im Park donnert Jim mit seinem Fahrrad den Hügel runter und weigert sich beharrlich, die Bremse zu benutzen. Hauptsache Speed! Dann um die Kurve und hinter dem Hügel verschwinden. Es stresst mich jedesmal, wenn ich ihn nicht sehen kann. Und gleichzeitig vertraue ich darauf, dass er nur die große Runde fährt und dann eh zurückkommt. Ja, klar, ich halte ordentlich die Luft an und bin froh, dass ich wieder ausatmen kann, wenn er um die Ecke geradelt kommt.

Kalkuliertes Risiko

Er klettert und rennt auf dem Spielplatz. Ich zwinge mich dazu, nicht immer daneben zu stehen und ihn abzusichern. Kalkuliertes Risiko nenne ich das. Wird es zu wild oder zu gefährlich, bin ich natürlich in den Nähe, aber ich versuche ihn nicht zu gängeln oder an jedem Spielgerät sein Fallnetz zu sein. Wenn er fällt, dann fällt er. Seien wir mal ehrlich: die Zeiten, in denen Jim fünf Kilo wog, sind halt auch vorbei. Wahrscheinlich könnte ich ihn eh nicht auffangen.

Versteht mich nicht falsch: man muss sein Kind nicht auf der Autobahn spielen lassen, damit es die Erfahrung macht, dass das Spielen auf der Straße gefährlich ist. Ich würde Jim auf hoher See wohl auch nicht an der Reling turnen oder zuhause (oder irgendwo anders) mit Propangas und Feuerzeug hantieren lassen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem Eltern wandeln, wenn sie ihre Kinder beschützen und gleichzeitig Erfahrungen sammeln lassen wollen. Der Grat wird noch schmaler, wenn man ein Kind hat, das Erklärungen nicht (immer) versteht. Oder das völlig impulsiv handelt.

Alles ist erstmal möglich

„Wie machst du das? Also, dass du das aushältst?“ fragte meine Freundin. Und ein bißchen musste ich lachen darüber, denn ich empfinde mich eigentlich als beinahe übervorsichtig, zumindest was Jim betrifft. Gleichzeitig ist es aber doch auch so: als Eltern haben wir die Pflicht, unsere Kinder auch ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Das können sie nur, wenn wir es auch zulassen. Wenn wir sie vor jedem vermeintlichen Risiko beschützen – wie sollen sie lernen, Gefahren zu identifizieren und mit ihnen umzugehen? Woher sollen sie wissen, was sie tatsächlich können?

Ich habe für mich beschlossen: alles ist möglich. Das bedeutet, dass ich Jim erstmal alles zutraue. Im positiven Sinn. Ich gehe davon aus, dass er alles schaffen kann. In seinem Tempo und auf seine Art und Weise. Gleichzeitig habe ich natürlich im Hinterkopf, dass es vielleicht anders kommt. Wenn ich zum Beispiel gefragt werde, ob Jim mal ein eigenständiges Leben wird führen können, ist meine Antwort also: „Warum nicht? Und wenn nicht, dann eben nicht.“ Ich will ihn nicht einschränken, ihm nicht einen Lebensrahmen verpassen, der vielleicht gar nicht richtig für ihn ist. Er soll (sich) ausprobieren, seine Möglichkeiten und Grenzen austesten. Und wenn es soweit ist, dann schauen wir weiter.

Von „niemals“ zu „zu seiner Zeit“

Jim WieseWenn ich heute zurückdenke an damals, als wir Jims Diagnose mitgeteilt bekamen, dann erinnere ich mich an viel „niemals“. Das war, was ich überwiegend gelesen und gehört habe. Was dieses Kind alles niemals können würde. Es wäre gelogen zu behaupten, dass mich das nicht verunsichert hätte. Natürlich hat es das. Heute – rückblickend – kann ich sagen: Jim hat sich von all dem einfach null beeindrucken lassen. Er hat „niemals“ zu „zu seiner Zeit“ gemacht. So vieles ist möglich, was uns andere als unmöglich eingeredet haben. Vielleicht an mancher Stelle etwas unkonventionell, aber möglich. Und das ist, was für uns zählt.

Und so lassen wir Jim seine Erfahrungen machen. Immer mit kalkuliertem Risiko im Hinterkopf und großem Vertrauen im Herzen. Denn wenn er seine Grenzen nicht erfährt, wird er sein Potenzial nie ausschöpfen können. Für mich bedeutet das oft, das Kopfkino auszuschalten. Und was zeigt das mal wieder? Genau: dass es nicht die Herausforderung für Jim ist, die mich unruhig macht, sondern meine Erwartung und auch meine Vorstellung von dem, was geht. Zulassen, dass alles möglich ist, aber nichts sein muss – das ist die Lektion, die das Muttersein mir erteilt.